Sternfahrt 2019

Sternfahrt 2019

Eine Nacht wie keine andere – Die Erfüllung eines Traums in einer schlaflosen Nacht

Sonnenaufgang

Im Juni 2017 hat alles angefangen: Die erste Fahrradsternfahrt mit Mathias und Mathias. Von Potsdam aus. War ganz cool mal mit dem Rad über die Avus zu sausen, aber da geht doch noch mehr, oder? 2018 von Brandenburg (Stadt) nach Berlin und zurück nach Potsdam. Ab Ketzin hatte es heftig geregnet. Wir haben uns im Laufe des Tages trocken gefahren und sind letztendlich bei strahlendem Sonnenschein am Großen Stern angekommen. Aber da geht doch noch mehr, oder? Die Leidenschaft war geweckt und so hieß das nächste große Ziel, das mir von da an im Kopf herumspukte: Die Nachtfahrt von Stettin!

Am 2. Juni 2019 wagen wir den Versuch. Schon die Anreise ist ein Erlebnis für sich: Von Berlin aus fahren einige Radler mit dem Zug. Bei jedem Umstieg werden es mehr und so drängen in Angermünde bestimmt 35 Reisende mit ihren Rädern ins Innere der Bahn. Angeblich ist vom ADFC bei der DB auch gemeldet, dass für diese Verbindung zahlreiche Radfahrer erwartet werden. Umso mehr verwundert es, dass genau dieses Regionalbimmelbähnchen ausnahmsweise nur mit einem statt mit 2 Triebwagen verkehrt. Was bleibt, sind 5 Sternfahrer in Angermünde, deren Räder absolut nicht mehr in den Zug passen, und folgende Erkenntnisse: Erstens: Man kann in einem Zug, in dem normalerweise mehr als 3 Fahrräder als Problem gehandhabt werden, mit viel gutem Willen und etwas Geschick auch mal 30 Räder unterbringen. Und zweitens sind die Menschen doch oft freundlicher als man denkt: Die zunächst etwas muffelige Zugbegleiterin stellte sich schließlich als sehr hilfsbereit heraus, als sie den guten Willen von allen Seiten erkannte (Fluchtwege möglichst irgendwie noch erkennbar frei lassen, dafür durften dann auch ein paar Räder in Richtung der 1-Klasse-Abteilung abgestellt werden). In ihrem Fall hatte sie halt einfach das Pech, statt einer ruhigen Samstagabendschicht als erste Fahrt in diesem Dienst einen Haufen leidenschaftlicher Radfahrer zu befördern. Aber letztlich haben sich alle Beteiligten mit ihrem Schicksal abgefunden.

In Stettin treffe ich auf die beiden Mathiasse, die pfiffigerweise schon 2 Stunden eher mit der Bahn gefahren waren. Unter Polizeischutz geht es um 21:30 Uhr los: ca. 100-150 Radfahrer, hinein in die Abenddämmerung. Ein bunter Haufen, im wahrsten Sinne des Wortes – sowohl die Räder als auch die Radler: Lichterketten, Musikboxen, Fahnen, Sticker und Plakate werden an den rollenden Untersätzen befestigt und die Fahrer: Deutsche, Polen, Männlein, Weiblein. Die Jüngste höchstens 12, die Älteste sicherlich über 60.

Drei Radfahrer in Stettin
Vor dem Start: noch lächeln wir ganz entspannt

Ab der Grenze sind wir dann allein (ohne Polizei, aber mit Begleitern des ADFC) unterwegs. Eine lange, durch die Rücklichter rot leuchtende Raupe, die sich über die Oderdeiche schlängelt. Ab Kilometer 40 merke ich zum ersten Mal, dass es anstrengend werden wird, zum Teil sogar sehr anstrengend. Dabei ist nicht so sehr die Strecke die Schwierigkeit, sondern die Müdigkeit. Die anfangs noch lebhaften Gespräche sind inzwischen verstummt und häufig ist nur das Surren der Räder und das Klackern der Gangschaltungen zu hören, wenn es kurz hoch oder runter geht. Gelegentlich kommen wir an Häusern vorbei, an denen noch Menschen draußen sitzen, und ungläubig schauen, wenn eine Kompanie von Radfahrern um diese Uhrzeit an ihren Häusern vorbeifährt. Stürmisch klingelnd werden sie dann von uns gegrüßt, während die Hunde im Dorf alles geben, um jeden Radfahrer einzeln anzubellen. Zwischendurch machen wir natürlich auch Pausen, die immer wieder gleich ablaufen: Essen, Trinken, kurz im Gebüsch verschwinden, weiterfahren. Irgendwann in der Nacht machen die polnischen Mitfahrer den nach ihnen benannten Abgang (zumindest habe ich nicht mitbekommen, wann sie verschwunden sind) und fahren zurück nach Stettin, dafür treffen wir wieder auf unsere Truppe, die wir am Bahnhof Angermünde zurück lassen mussten. Das Treten geht inzwischen automatisch. Nur nicht drüber nachdenken, dann läuft es auch gut und zudem schiebt uns ein leichter Rückenwind. Wie viele Kilometer wir schon zurückgelegt haben, weiß ich nicht. Es ist zu dunkel, um die Zahlen auf dem Tacho zu erkennen. Ab ca. 2 Uhr lässt sich der erste Lichtstreif am Horizont erahnen. Bald wird es hell werden und das gibt mir neue Energie! Auch die Vögel zwitschern schon wieder eifrig. Aus dem schemenhaften Erahnen der Landschaft um uns herum wird langsam ein deutliches Erkennen. Ja, wir fahren tatsächlich an der Oder entlang ;-). Gegen 4:30 Uhr Pause zum Sonnenaufgang. Wunderschön sehen die Nebelfelder im Morgenrot aus. Wenn man eine Weile so da steht, wird einem tatsächlich kühl, trotz Fleece- und Regenjacke. Wir sind uns aber auch der Tatsache bewusst, dass sich dieser Zustand im Laufe des Tages massiv ändern wird, bei angekündigten 33°C.

Die Pausen werden etwas länger und häufiger, weil wir sehr gut im Zeitplan liegen. Bisher gab es nur eine Zwangspause wegen eines Platten mitten in der Nacht im Wald. Aber so etwas sollte man bekanntlich nie denken und schon gar nicht sagen. Prompt gehen auf der nächsten schlechten Schotterstrecke 3 Reifen die Luft aus. Einer davon ist der von Mathias, aber mit Pumpintervallen hält er noch durch bis zum Zwischenstopp in Eberswalde, das wir schließlich nach gut 120 Kilometern gegen 7:30 Uhr erreichen. Das war das Minimalziel, das ich in der Nacht vor Augen hatte. Hier befindet sich einerseits der erste Bahnhof für erschöpfte Radler, die in den Zug steigen wollen und andererseits gibt es im Bahnhofsladen die Möglichkeit, die Energiereserven aufzufüllen. Ein interessanter Anblick: Am Sonntagmorgen stürmen zig hungrige, durstige und müde Radfahrer das winzige Lädchen um sich mit Kaffee, Kaltgetränken, belegten Brötchen, Bockwürsten oder Süßigkeiten zu erfrischen. Entsprechend lang ist die Schlange an der Kasse, die von dem einen fleißigen Mitarbeiter mit freundlicher Gelassenheit abgearbeitet wird. Nach Cola, Wasser und einer Butterbrezel mache ich es wie einige andere auch und lege mich einfach auf die Steine des Bahnhofsvorplatzes, um für 10 Minuten die Augen zu schließen. Ob nun Nickerchen, Cola oder Sonnenlicht: Nach der Pause habe ich auf jeden Fall ziemlich viel neue Energie für den nächsten Streckenabschnitt. Mal sehen, wie lange das anhält. Wir haben in unserer Dreiergruppe beschlossen, dass wir ab jetzt spontan an jedem Haltepunkt entscheiden, ob wir noch weiterfahren wollen und können oder nicht, weil wir selber kaum sagen können, wie weit die eigene Kraft noch reicht. Ab Eberswalde fahren wir nun wieder mit Polizeibegleitung und durch die neuen Mitradler ist unsere Truppe auch nochmal gut verstärkt worden.

In so einer Gruppe Rad zu fahren ist auch ein ganz anderes Erlebnis als alleine. Wir dürfen die komplette rechte Fahrbahnseite benutzen und entgegenkommender Verkehr wird von der Polizei aufgefordert rechts ranzufahren und die Demo abzuwarten. Rote Ampeln dürfen in Polizeibegleitung einfach überfahren werden. Einzig ein Bahnübergang spaltet einmal die Gruppe. Hier empfiehlt es sich eben doch anzuhalten, denn auch Radfahrer wissen, wer im Zweifelsfall der Stärkere ist. So komfortabel es ist, sich nicht groß um die anderen Verkehrsteilnehmer kümmern zu müssen, sollte man trotzdem sehr konzentriert bleiben um spontane Brems- und Ausweichmanöver möglichst zu vermeiden. Manchmal wird man trotzdem dazu gezwungen. Der Vordermann stürzt oder hat eine Panne und will nach rechts ausweichen. Da heißt es dann schnell reagieren: Platz machen, mit der einen Hand bremsen, mit der anderen Hand das Achtungszeichen (ausgestreckte Hand nach oben) nach hinten durchgeben und dabei möglichst selber nicht vom Rad rutschen :-). Es ist erstaunlich wie wenig man durch die vielen Radfahrer vor einem ansonsten von den Hindernissen wie parkenden Autos oder Verkehrsinseln sieht, wenn man nicht vorgewarnt wird. Die anderen Verkehrsteilnehmer reagieren unterschiedlich auf die Radfahrerkolonne, die noch immer jedes wartende Auto und jeden staunenden Fußgänger mit Winken und Klingelkonzert begrüßt. Einige ergeben sich ihrem Schicksal und warten mit starrer Miene, bis der bunte Zug vorüber ist, andere lächeln und grüßen zurück und ein sehr geringer Anteil ist ernsthaft böse und pöbelt oder versucht sich möglichst schnell und dabei Risiken in Kauf nehmend an der Masse vorbeizubewegen. In Biesenthal erwartet uns eine besondere Überraschung. Nicht nur neue Radler, die sich uns anschließen wollen, sondern außerdem ein meterlanges Buffet mit Obst, belegten Broten, selbstgebackenem Kuchen und Keksen sowie Kaffee und Wasser. Also alles, was das Radlerherz begehrt – was für eine Freude! Und auch, wenn die fleißigen Helfer das hier vermutlich nicht lesen werden: Vielen, vielen Dank dafür!

Die nächsten Stationen sind Bernau und Hohenschönhausen. Ab hier bräuchten wir nur noch ein Berlin ABC-Ticket für die Heimfahrt, aber noch geben wir nicht auf :-). Kurz hinter der Landsberger Allee verlassen wir aber den Tross. Die offizielle Route führt weiter nach Süden und wird dann auf den Südring der Stadtautobahn geleitet. In den letzten Jahren haben wir aber die Erfahrung gesammelt, dass den Auffahrten auf die Autobahn meist ein langes Warten in praller Sonne vorhergeht, ehe die Polizei die Autobahnabschnitte für die Radfahrer freigibt. Das wollen wir uns diesmal ersparen und fahren über den Alex gleich Richtung Brandenburger Tor. Aufpassen – jetzt gelten auch wieder Ampeln und Verkehrszeichen für uns! Der Plan, den Menschenmassen der Sternfahrt durch unsere Streckenänderung zu umgehen, funktioniert auch nur bedingt, denn am Alex geraten wir in einen anderen Teil der Sternfahrt, den wir aber auch schnell wieder verlassen. Einen ganz entscheidenden Vorteil bringt uns die Abkürzung aber: Zum ersten Mal erleben wir das Umweltfest zwischen Großem Stern und Brandenburger Tor bevor die ganzen Teilnehmer der Sternfahrt dort eintreffen und man von den Ständen eh nichts mehr sieht und man für Essen und Getränke ewig anstehen muss. Nach einer Runde über das Fest und einer kurzen Erfrischung (Holunderblütenslush, absolut genial bei dem Wetter) machen wir uns, zu müde für eine Rückfahrt mit dem Rad, auf den Weg zum Bahnhof Friedrichstraße, von wo aus der Zug nach Potsdam fährt. Ein Ziel will ich allerdings noch erreichen: Noch nie zuvor bin ich so eine lange Strecke am Stück mit dem Rad gefahren und nun will ich unbedingt noch die 200-Kilometermarke knacken. Daher fahre ich noch einen kleinen Umweg durch Potsdam. Am Ende steht der Kilometerzähler bei 201. Zu Hause führt der erste Weg unter die Dusche. Es erstaunt mich, dass sich die Klamotten überhaupt noch von der Haut lösen lassen. Nach über 24 Stunden in den Fahrradsachen habe ich das Gefühl, Dreck, Staub, Schweiß, Sonnencreme und Kunstfaser bilden eine undurchdringliche Schicht auf dem Körper. Sauber, gesättigt, unglaublich müde, aber auch sehr glücklich und stolz falle ich am frühen Abend ins Bett.Was bleibt ist die Erkenntnis, dass man manchmal mehr schaffen kann, als man denkt, wenn man es einfach versucht, dran bleibt und sich durchbeißt. Zwischendurch hatte ich nicht nur einmal Zweifel daran, ob ich es bis Berlin schaffen könnte. Aber dann half es, sich nur auf das nächste Zwischenziel zu konzentrieren. Bis dahin wird’s ja wohl noch gehen. Außerdem ein Gemeinschaftsgefühl mit zig Radlern, deren Namen man nicht mal kennt, mit denen man aber im Laufe einer Nacht ein bisschen zusammengewachsen ist und natürlich die Vorfreude auf die nächste Fahrrad(stern)fahrt!

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